Das Dogma der „Ehre” kann nicht bestimmten (National- oder Ethno-)Kulturen zugeschrieben werden, sondern kommt in mal marginalen, mal hegemonialen, autoritär-kollektivistischen Strömungen innerhalb diverser kultureller Gruppen und Gesellschaften vor. Es wird eingesetzt, um patriarchale, heteronormative Geschlechter- und Generationenverhältnisse zu stabilisieren, Einzelne zu disziplinieren und zur Opferbereitschaft zum Wohl des Kollektivs anzuhalten. Die Versagung der „Ehre” wird genutzt, um jene, die von der Norm abweichen, zu beschämen, zu ächten, zu reglementieren und mit sozialer, psychischer und physischer bis hin zur tödlichen Gewalt zu bestrafen. Der Sprachgebrauch und Wertekanon illiberaler, chauvinistischer Gesellschaften und Strömungen – bis hin zum Ehrenkult des Nationalsozialismus und heutiger völkischer Bewegungen – liefern viele Beispiele dafür.